...dirigieren
Einmal als Dirigent vor einem großen Sinfonieorchester zu stehen – das war als Jugendlicher mein größter Traum. Dass es alles andere als einfach war, diesen Traum in die Realität umzusetzen, habe ich in Wie ich wurde, was ich bin beschrieben.
Oft höre ich die Frage: „Ach, Dirigieren kann man studieren?“ Doch nach langen Erklärungen blicke ich oft in noch ratlosere Gesichter. Dirigieren ist eben nicht nur „rumwedeln“; eigentlich ist das noch das einfachste. Das Schwierige am Dirigieren ist in meinen Augen einerseits sich ein Werk umfassend erschließen zu können (Entstehungsumstände, Uraufführungsbedingungen, Interpretation, Rezeption, heute aktuelle Aussage, usw.), und andererseits eine Gruppe von Musikern dahin zu bringen, eine zumindest ähnliche Auffassung dieses Werkes zu erlangen und so deren musikalische Interpretation zu beeinflussen. Dazu muss man natürlich genau wissen, wie welches Instrument funktioniert – und zwar alle Instrumente! – und welche spezielle Behandlung die ausführenden Musiker benötigen. Ein Dirigent ist also erst einmal Forscher, dann Vermittler und zuletzt Musiker. Einige werden mir da heftig widersprechen. Doch dann frage ich: Welcher Koch kocht einfach drauf los, ohne das Rezept gelesen zu haben und ohne die Funktionsweise seines Herdes zu kennen? Welcher Arzt behandelt einen Patienten, ohne dass er Querverbindungen zu gleichen Symptomen bei anderen Patienten herstellt und ohne die Historie im Umgang mit dieser Krankheit studiert zu haben? Wieso sollte also ein Dirigent einfach eine Partitur aufschlagen und losdirigieren?
Durch meine Tätigkeit als Musikwissenschaftler fällt mir die Erarbeitung eines Werkes natürlich einfacher als anderen ohne einen solchen fachlichen Hintergrund. Was mir jedoch von Grund auf fehlte, war die Ausprägung meiner Musikalität. Ich spiele kein Orchesterinstrument, war also in meiner Jugend nie Mitglied in einem klassischen Orchester. Erst in einem vergleichsweise hohen Alter von Anfang 20 konnte ich damit beginnen, was andere von Kindesbeinen an lernen. Ein wirklicher Musikant – im allerbesten ursprünglichen Sinne dieses Wortes – werde ich wohl niemals mehr werden, doch die vielen kleinen und manchmal auch großen Fortschritte, die von Projekt zu Projekt und von Jahr zu Jahr sichtbar werden, beweisen mir, dass es sich lohnt, diesen Weg weiter zu gehen. Das Spannende am Dirigieren ist, dass man immer ein Lernender bleibt und nie an den Punkt kommen kann, dass man meint alles über ein Werk zu wissen. Nicht ohne Grund sind die besten Dirigenten (und Musikwissenschaftler) gleichzeitig die ältesten, meist weit jenseits des Renteneintrittsalters – für Musiker (und Musikwissenschaftler) ohnehin ein Fremdwort.
Auf den folgenden Unterseiten möchte ich beschreiben, was die jeweilige Besonderheit in den Bereichen Chor, Orchester und Chorsinfonik ist, wie ich damit in Berührung kam und welche Referenzen ich mir erworben habe. Außerdem möchte ich eine Übersicht über mein Repertoire als Dirigent geben.