Klanggewaltig ins Jubiläumsjahr: Projekt „Ein Dorf singt“ begeistert auf hohem Niveau
von Susanne Plecher
Es gab Zeiten in der Geschichte des Langenbernsdorfer Männergesangvereins, da wusste man sich zur Disziplinierung der Sänger keinen anderen Rat, als Strafgebühren für jede geschwänzte Chorprobe aufzuerlegen: 10 Pfennig für jeden, der fehlte. Notiert wurde das säuberlich im Strafen-Buch. „Im Jahr 1912 sangen 23 Herren bei miserabler Anwesenheit. Oft waren weniger als zehn Chormitglieder anwesend“, schreibt Liedermeister Michael Pauser in der Festschrift zum 150. Vereinsgeburtstag. So fehlte zum Beispiel Kurt Wolf, der später Vorsitzender des Chores wurde, in jenem Jahr vier Mal. Allerdings bewegte er sich damit auf der Abwesenheitsskala im unteren Mittelfeld. Andere waren wesentlich säumiger.
110 Jahre später füllt der Chor, in dem längst auch wieder Frauen singen dürfen, die Werdauer Stadthalle „Pleißental“ an zwei aufeinander folgenden Tagen. Gemeinsam mit dem neu gegründeten Schulchor des Werdauer Humboldt-Gymnasiums und der Vogtland Philharmonie Greiz/Reichenbach präsentiert er inzwischen zum neunten Mal seit 2013 das Projekt „Ein Dorf singt“. Am 14. und 15. Mai 2022 steht „Klassik bis Filmmusik“ auf dem Programm. Das „Pleißental“ ist rappelvoll, ein Parkplatz ist kaum zu ergattern. Die Nummernschilder verraten, woher die Leute kommen: Zwickau, Vogtlandkreis, selbst Thüringer, Leipziger und Dresdner sind da. Das Dorf singt. Aber es ist längst nicht mehr nur das Dorf, das zuhört. „Die Anzahl der Langenbernsdorfer unter den Gästen“, sagt Michael Pauser später, „nimmt kontinuierlich ab. Sie liegt jetzt noch bei etwa 30 Prozent.“
Steffi Hartung und Jan Kahnes sitzen am Sonnabend in der letzten Reihe hinten links. Gespannt schauen die beiden zur Bühne. Fest im Blick haben sie zwei junge Sängerinnen in der Stimmlage Alt 1. Es ist für sie nicht das erste Mal, dass sich ihre Töchter an den chorsinfonischen Konzerten beteiligen. Anne-Katrin und Helene waren schon 2014 mit dabei, als der Kinderchor auf der Empore im Langenbernsdorfer Landgasthof „Weißes Roß“ sang. Damals waren sie neun und sieben Jahre alt. Aber nun tragen beide die offiziellen Chorfarben Schwarz und Grün. „Helene ist heute das erste Mal beim großen Chor dabei“, sagt Steffi Hartung. „Ich bin richtig froh, dass in Langenbernsdorf so etwas Hochwertiges angeboten wird. Es macht ihnen Spaß, sie kommen beschwingt aus den Proben.“ Das ist donnerstags, oft erst 22 Uhr.
Dann geht es los. Carl Orffs „O fortuna“ aus den Carmina burana donnert aus 91 Kehlen. Dem Publikum stellen sich die Härchen auf den Unterarmen auf. Laut braust der Applaus. Treue Konzertgänger wissen: Zu Kleinem berufen fühlt sich der Liedermeister nicht. Der Chor zieht mit und stellt sich nicht nur den musikalischen, sondern auch sprachlichen Herausforderungen – dieses Mal Latein, Englisch, Schwedisch. Doch zwei Tage vor dem ersten Konzert sah sich Michael Pauser plötzlich einer ganz anderen Herausforderung gegenüber. Solistin Andrea Chudak, die bislang fast jedes Konzert von „Ein Dorf singt“ begleitet hatte, war zwei Mal Corona-positiv getestet worden. Die Konzerte konnte sie keinesfalls singen. „Zum Glück springt kurzfristig Anika Paulick ein“, sagt Pauser beim Konzert. Donnerstagabend, also 48 Stunden davor, hatte er sie bei einem Strandspaziergang an der Ostsee erreicht und ihr um 22 Uhr das Programm geschickt. Sie stimmte sofort zu und erarbeitete sich die breitgefächerten Stücke in Windeseile. Herzerfrischend dienstbeflissen gab sie die „Christel von der Post“, frech und pfeffrig sang sie das „Schwipslied“ von Johann Strauß, staatstragend Andrew Lloyd Webbers Evita in „Don’t cry for me, Argentina“, nachdenklich und ganz behutsam die Tochter, die ihren geliebten Vater in Puccinis „O mio babbino caro“ besingt. Die ganze Zeit getragen und geführt von den Profis der Philharmonie und dem Dirigat von Michael Pauser.
Anders als Anika Paulick hatte der Chor viel Zeit zum Üben. Muss man 2022 über Strafzahlungen für Probenschwänzer nachdenken, Herr Pauser? „Nein, ganz und gar nicht“, wehrt er ab. So schalteten sich zu den Proben, zu denen sich die Sängerinnen und Sänger des Gesangvereins pandemiebedingt im Internet treffen mussten, über 90 Prozent zu. „Teilweise waren alle 58 Chormitglieder dabei“, sagt Pauser, und er klingt, als könne er das immer noch nicht so ganz fassen. Wer öfter da ist, übt mehr – vor allem, wenn der Liedermeister durch die Einzelübertragung ganz genau hört, wer was wie singt, wie exakt die Aussprache ist, ob Höhen und Tiefen getroffen oder nur tangiert werden.
Bei den Hartungs laufen die Übungs-CDs ständig. Helene sagt: „Wenn ich übe, singe ich laut durchs ganze Haus, ganz egal, was die anderen machen oder ob jemand schläft. Ich singe.“ Helene ist mit ihren 15 Jahren das jüngste Mitglied im Gesangverein. Dr. Wilfried Bartsch, 81, ist der Älteste. Als er 2006 in den Chor eintrat, war der noch ein reiner Männergesangverein. „Eigentlich war er im Absterben begriffen“, erinnert sich Bartsch. Mit dem neuen, damals gerade 20-jährigen Liedermeister und „dem Feuer und den Ideen, die er hineingetragen hat“, habe sich das grundlegend gewandelt. „Für mich ist die Arbeit im Chor ganz wichtig geworden, ich habe dort Heimat gefunden, Freunde und Bekannte“, sagt er. „Ich will auf jeden Fall weitermachen, solange ich es kann.“ Das sieht Helene ganz ähnlich: „Auf jeden Fall bis zum Abitur. Danach muss ich sehen“, sagt sie.
Gesangverein in Langenbernsdorf, das ist für viele ein Teil der Familiengeschichte. Uropas und Opas sangen mit, Väter, Onkel – nun auch Mütter, Tanten, Schwestern oder Brüder. In manchen Familien, zum Beispiel bei den Wolfs, reicht die aktive Chorgeschichte über fünf Generationen. Im Dorf dürfte jeder jemanden kennen, der dabei ist. Der Chor bindet ein, schafft eine neue Qualität der dörflichen Identität. Man hat ein gemeinsames Ziel, eine gemeinsame Anstrengung, gemeinsame Freuden und Erfolge. Ganz abgesehen von der Strahlkraft, die auch durch die Präsenz in den Medien auf das ganze Dorf abfärbt.
Aber der Erfolg ist hart erarbeitet, vor allem während der Zeit, in der nicht zusammen geprobt werden konnte. Sie hatte trotz allem Positives. „Die Sängerinnen und Sänger haben da gelernt, allein zu singen. Das merkt man ihrer Stimmkraft an“, schätzt Pauser ein. „Unsere musikalische Qualität hat in den vergangenen zwei Jahren deshalb große Sprünge gemacht. Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Unser Chor war nie so gut wie jetzt“, sagt er. Die Sänger empfinden das auch so: „Die Entwicklung, die unser Chor genommen hat, ist enorm“, sagt Gottfried Wolf – bis kurz nach den Konzerten noch Vorstandsmitglied, Chormitglied seit 1979 mit langer Unterbrechung und Enkel des eingangs erwähnten Kurt. „Das Repertoire ist breiter, anspruchsvoller, interessanter, die Singstunden sind zielgerichteter geworden.“
Wer Freude hat, an dem was er tut, strahlt. Der überzeugt und steckt im besten Fall mit Glück an. Schafft ein Chor das, dann heulen die Zuschauer. Bei Hallelujah von Leonard Cohen, dem stimmstärksten Stück und emotionalen Höhepunkt des Samstagskonzertes, half man sich mit Taschentüchern aus. Spätestens bei „Memory“ aus Andrew Lloyd Webbers Musical Cats fragten manche nach Nachschub.
Helene strahlt noch eine Woche nach den Aufführungen. „Es war wundervoll, das Orchester von oben zu beobachten und zu sehen, was die Musiker leisten. Und zu hören, wie alles zusammenklingt. Das war ein Traum“, sagt sie.