Standpunkt: Eine Sinfonie auf dem Dorf – Was soll das?!
Es war eine bewusste Entscheidung der Mitgliederversammlung unseres Vereines, dass im sechsten Jahr von „Ein Dorf singt“ einmal keine Solisten mitwirken sollten. Doch ein komplettes Konzertprogramm mit gut 90 Minuten Singanteil für den Chor war und ist in Anbetracht der begrenzten Probenzeit sowie der physischen Belastungsgrenzen unseres Laienchores nicht machbar. Somit stand von Anfang an fest, dass 2018 in der Mitte des Programms eine Sinfonie erklingen sollte. Dass wir damit für Verwirrung sorgten, bemerkten wir spätestens, als die Freie Presse titelte: „Ein Dorf singt – In diesem Jahr studieren die Laiensänger eine Sinfonie ein“ – was wir natürlich nicht taten.
Auch sonst begegnete uns einige Skepsis; eine Sinfonie habe nichts mit einem singenden Dorf zu tun. Wobei einerseits die Frage gestellt wurde, was eine Sinfonie mit einem Sing-Projekt zu tun habe, und andererseits nach der Meinung einiger ein solches Werk schlicht nichts auf dem Dorf verloren hätte. Nicht nur ich frage mich: Wieso eigentlich nicht?! Ist Musik an Orte gebunden? Bedingen diese Orte einen bestimmten Typ Zuhörer? Zugespitzt gefragt: Traut man den Menschen auf dem Dorf nicht zu, sich an den instrumentalen Meisterwerken der Musikgeschichte ebenso zu erfreuen? Manchem Kommentator fehlte nicht viel zum voreiligen Fazit: „Perlen vor die Säue…“ Das kennen wir seit dem Beginn von „Ein Dorf singt“, doch das macht es nicht erträglicher. Wer so denkt, hat schlicht Musik nicht verstanden und / oder wurde in seinem Innersten noch nicht von ihr berührt.
Man könnte nun noch viel über diesen Aspekt nachdenken. Allein es bringt wohl nichts. Blicken wir stattdessen lieber auf das, was am 29. und 30. September 2018 in Langenbernsdorf passiert ist: Eingebettet in das reichhaltige orchesterbegleitete Programm des Chores, der sich in seiner besten Form zeigte, die er bisher hatte – soweit waren sich alle einig –, erklang im Saal des Landgasthofes „Weißes Roß“ tatsächlich die 5. Sinfonie von Ludwig van Beethoven. Die Vogtland Philharmonie Greiz/Reichenbach musizierte dieses Werk, während 60 Sängerinnen und Sänger, von denen noch niemand diese Sinfonie jemals live gehört hatte, andächtig hörend mit auf der Bühne saßen. Bei den 450 Konzertbesuchern lag die Zahl derer mit Sicherheit im einstelligen Prozentbereich. Es war mein Ziel, dass es ein forderndes Erlebnis werden sollte. Doch ich wusste um die dieser Musik innewohnende und beglückende Kraft; immerhin hatte sie mich einst im Musikunterricht in ihren Bann gezogen und in mir ein Feuer entzündet, das ich gern mit Fackeln dorthin tragen möchte, wo es kulturell eher düster ist.
Die Publikumsreaktionen waren fast ausnahmslos begeistert bis euphorisch. Von Gänsehaut bis Freudentränen reichten die Emotionen. Selbst die, bei denen ich dachte, dass sie nach wenigen Minuten vor der schieren Klanggewalt des Orchesterapparates kapitulieren und das Ereignis nun mehr oder weniger gefasst ertragen würden, standen nach dem Konzert mit funkelnden Augen vor mir und dankten mir teils überschwänglich, dass sie dieses großartige Werk erleben durften. Hinzu kommt der Projektunterricht am Gymnasium Werdau, der für die 60 Schülerinnen und Schüler einen Probenbesuch beinhaltete. Wenn eine zwischen geringem Interesse, viel Gleichgültigkeit und breiter Abneigung gegenüber klassischer Musik changierende Gruppe Jugendlicher den Saal betritt und dieselbe Gruppe ihn nach einer Stunde begeistert und überwältigt wieder verlässt, dann stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit dieses Programmpunktes im Grunde keinen Augenblick länger!
Ich stelle stattdessen als jemand, der davon lebt, dass sich Menschen für Musik interessieren, eine wichtige Frage an diejenigen, die immer noch nicht überzeugt sind: Wer ist unser Kulturpublikum von morgen? Wenn wir die Jugendlichen nicht mit dieser Musik konfrontieren und einige von ihnen dafür begeistern, wer geht in zehn oder zwanzig Jahren ins Sinfoniekonzert unserer regionalen Orchester, wenn der jetzige vielzitierte Silbersee in den Zuschauerrängen dann allmählich versiegt sein wird? Wer unterstützt dann noch den bereits heute bröckelnden politischen Konsens, dass Kulturfinanzierung eine zwingend notwendige Aufgabe des Staates (also des Steuerzahlers!) ist?
Bei „Ein Dorf singt“ bekommen die Besucher Hochkultur geboten. Das Besondere ist, dass nicht sie in die Kulturstätten fahren müssen, sondern dass sie das in ihrem kleinen Dorf geboten bekommen. Die für manche zu große Hemmschwelle ein Theater oder eine Konzertkirche zu betreten entfällt bei uns. Unser Verein als lokaler Akteur und die Vogtland Philharmonie als professioneller Kulturpartner sowie alle Unterstützer stellen mit diesem Projekt etwas auf die Beine, das andere erst einmal nachmachen sollen. Es ist zudem ein Projekt, das allen Beteiligten gleichermaßen nützt. Bei aller – durchaus berechtigter – Kritik, das Programm sei zu lang oder zu ambitioniert gewesen, überlasse ich die abschließende Bewertung dem Publikum. Die geschilderte Begeisterung und die erwarteten Synergieeffekte lassen aber aus meiner persönlichen Sicht nur einen Schluss zu: Die Frage darf nicht lauten: „Was soll eine Sinfonie auf dem Dorf?“, sondern: „Wann kommt die nächste?“ Am Interesse des Publikums mangelt es jedenfalls nicht. So viel ist nun gewiss. Und es gibt ja tatsächlich Sinfonien, in denen man als Chor mitsingen kann. Dann stimmen auch Etikett und Inhalt wieder unmissverständlich überein…
Michael Pauser